Ich meine ja nur
Deutschland - Ein Musikvideo
Der Rammstein-Skandal
Wie so oft irren sich die Medien bewusst, wenn zum Beispiel die Welt titelt: „Die ersten sechs Minuten und 25 Sekunden sind ein Amoklauf durch die deutsche Geschichte, von der Varusschlacht bis heute…“, denn es war natürlich nicht die Varusschlacht (9 nach Chr.!) denn erst Germanicus drang von 14 nach bis 16 nach Chr. tief nach Germanien hinein. Diese sogenannten Rachefeldzüge in denen 15 nach Chr. auch das Schlachtfeld der Varusschlacht aufgesucht wird, gipfeln im Jahre 16 nach Chr. in zwei großen, für die Römer erfolgreichen Schlachten bei Idistaviso und am Angrivarierwall gegen eine Koalition germanischer Stämme. Trotz großer militärischer Erfolge (oder gerade deswegen) wird Germanicus im selben Jahr durch Tiberius abberufen und erhält 17 nach Chr. einen Triumph in Rom. Die Expansionspläne zur Germania magna enden somit ebenfalls um 16 nach Christus.
Aber was soll’s – Mit richtig oder falsch nehmen wir es ja schon länger nicht mehr so genau.
Danach positionieren sich die Musiker so klar wie schon bei „Mann gegen Mann“ oder „links zwo drei vier“. Zitat: „Deutschland - Deine Liebe ist Fluch und Segen - Meine Liebe kann ich dir nicht geben".
Man kann in diesen Zeilen eine Distanzierung nach rechts lesen aber ist das wirklich schon alles oder gibt es doch mehr Raum für Interpretationen?
Dazu müssen wir versuchen die Aussagen des Videos in den jeweiligen zeitlichen Kontext zu stellen. Mal schauen was wir da finden. Dabei ist es wohl auch nicht nur ein Zufall, dass die allegorische Figur einer farbigen Germania das zentrale Motiv im Clip ist welche uns durch die Rammstein-Zeitreise über 2000 Jahre trägt. Die Personifikation Deutschlands ist, wie Jens Balzer in der „Zeit“ erwähnt, die einzige Frauenfigur. Was ja auch kein Wunder ist, denn rund 60 Geschlechteridentitäten konnte sich, bis in die frühen 2000er Jahre, niemand vorstellen.
Also auf zu den Zeitsprüngen
16 nach Christus wurden die germanischen Stämme zwar geschlagen, aber eine weitere Expansion nach Osten durch die Römer unterblieb. Heute nennt man das wohl einen Pyrrhussieg, den beide Seiten für sich in Anspruch nehmen können.
Doch kaum beginnen wir zu realisieren, was gemeint sein könnte, landen wir im Jahr der Kapitulation des Dritten Reiches. So erinnert das Bild von gut gekleideten Wissenschaftlern, die aus den Flammen treten und von einem Wissenschaftler im Rollstuhl begleitet werden an Dr. Strangelove aus Stanley Kubricks Meisterwerk.
Hier gibt es erneut einen Bezug zur deutschen Geschichte, denn der von Peter Sellers gespielte diabolische Wissenschaftler ist ein ehemaliger Nationalsozialist, der nach dem Krieg seine Dienste dem US-Militär anbietet – man denkt dabei beispielsweise an Wernher von Braun oder Fritz Haber und somit auch an die Operation Overcast (engl. overcast = bedeckt, wolkenverhangen). Die Operation Overcast war ein militärisches Geheimprojekt der USA, um nach der Niederlage Nazideutschlands am Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 deutsche Wissenschaftler und Techniker zu rekrutieren und sich deren militärtechnisches Können und Wissen zu sichern und gipfelte in der Operation Paperclip bei der schon im Sommer 1945 die erste Gruppe von Wissenschaftlern in die USA gebracht wurden.
Doch schon fallen wir in die „Goldenen Zwanziger“ zurück, als in der deutschen Hauptstadt wilde Partys gefeiert wurden und die Nacht zum Tag wurde. Bis 1929 die Weltwirtschaftskrise auch Deutschland erfasste und nicht nur das pulsierende Kulturleben Berlins, sondern auch den schwachen sozialen Frieden beendete.
Was danach kommen wird, wissen wir aus den Geschichtsbüchern.
Wie aus heiterem Himmel finden wir uns mit der farbigen Germania-Figur im Jahre 990 wieder, denn Kettenhemd und Krone erinnern an Otto den Dritten. Bereits als Dreijähriger wurde er zum deutschen König gewählt. Während seiner Unmündigkeit wurde das Reich von den Kaiserinnen Theophanu und Adelheid von Burgund verwaltet. In seiner Regierungszeit verlagerte sich der Schwerpunkt der Herrschaft nach Italien. Seine Regentschaft ist von ganz individuellen Entscheidungen geprägt. So setzte Otto gegen den rebellischen römischen Stadtadel mit seinen Vertrauten Bruno von Kärnten als Papst Gregor V. und Gerbert von Aurillac als Papst Silvester II. eigene Kandidaten ein. In Polen wurde eine vom Reich unabhängige Kirchenorganisation eingerichtet.
Noch nicht ganz den „undeutschen Kaiser“ verdaut finden wir uns im Jahr 1937 wieder. Der Feuerball im Hintergrund, das ist das Luftschiff „Hindenburg“. 1937 geriet der Zeppelin bei der Landung in Lakehurst im US-Staat New Jersey in Brand. Wie durch ein Wunder kamen nur 35 der 97 Personen an Bord ums Leben. Die Bilder der Katastrophe gingen um die Welt und beendeten die erfolgreichen deutschen Rekordüberquerungen des Atlantiks.
Das Metall der Hindenburg ist noch warm und wir stehen in Mitten der Zeit der DDR. Das Wappen des Arbeiter-und-Bauernstaats im Hintergrund, DDR-Flagge und NVA-Uniformen links, dahinter DDR-Astronaut Sigmund Jähn, SED-Chef Erich Honecker im Zentrum, Sowjetstern auf der Mütze der Germania, Marx-Büste rechts und ein sozialistischer Bruderkuss welcher an Erich Honecker und Leonid Breschnew aus dem Jahr 1979 erinnert. Auch hier wissen wir wie es ausgegangen ist.
Dann schon da nächste Unglück denn Germania führt als Rapperin Deutsche Schäferhunde an der Leine und im Hintergrund lauert schon ein Sondereinsatzkommando der Polizei. Schäferhunde, also die deutschesten aller Hunde, werden von einer Gangsterrapperin „geführt“? Warum erinnert mich das an die Verleihung des Echo-Musikpreises an die deutschen Rapper Kollegah und Farid Bang die mit ihren Texten andere Menschen zu Freiwild machen und eigentlich nur mit frauenverachtendem und antisemitischem Scheißdreck aufwarten können? Es ist wieder an der Zeit zu fragen: Wie konnte das nur in Deutschland passieren?
Dann der nächste Zeitsprung. Zurück in die Zeit von Martin Luther der ja auch kein gutes Haar am jüdischen Glauben ließ. Wir sehen Ordensbrüder beim Festmahl mit Sauerkraut und Würsten – deutscher geht es nicht! Doch das Gelage ist eine Abscheulichkeit denn gegessen wird aus dem Leib der Germania. Die Kirche, die sich am Leib Deutschlands gütlich tut.
Plötzlich befinden wir uns in der Zeit der Hyperinflation von 1923 in Deutschland, als die Geldentwertung so schnell voranschritt, dass die Reichsbank kaum mehr damit nachkam, neue Scheine mit immer noch mehr Nullen zu drucken. Kampf für das Überleben, Inflation, Ruhrkampf und Separatisten. Unheil liegt in der Luft!
Womit wir nahtlos und absehbar in die Zeit von 1936 bis 1945 fallen. Neben deutscher Hochtechnologie sehen wir Ausgrenzung (rosa Dreieck), Verfolgung (Davidstern) und Mord im schicken schwarzen Design von Hugo Boss. Aber was meint der Künstler, wenn zum Schluss die Unterdrückten zum Schuss kommen? Ein Gnadenakt ist das wohl kaum.
Nun sind wir in der Mitte der 1970er Jahre gelandet. Die RAF nimmt Germania als Geisel. Die linksextremistische Rote-Armee-Fraktion, zu Beginn verharmlosend als „Baader-Meinhof-Bande“ bezeichnet, forderte die deutsche Staatsgewalt im sogenannten "Deutschen Herbst" 1977 heraus wie keine andere Terrorgruppe.
Finanziert durch die DDR, ausgebildet in Ägypten und Palästina verbreiteten drei Generationen der RAF mit jeweils einer Handvoll Aktivisten Schrecken in der deutschen Bevölkerung. In linken Kreisen skandierte man häufig, gerne und noch lange nach dem Ende der RAF den Slogan: „Buback, Ponto, Schleyer – der nächste ist ein Bayer“. Gemeint war hier Franz-Josef Strauß.
Dann geht es wild und schnell hin und her, denn die Abfolgen von Hexenverbrennung, Pickelhaube, Bücherverbrennung, Deutschritterorden sowie dem Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR ein, als sich nach dem Tod Stalins zum ersten Mal im Ostblock massenhafter Widerstand gegen die sozialistische Diktatur formierte, überschlagen sich förmlich.
Zum „guten“ Schluss entschwindet Germania in einer gläsernen Stasiskammer, der an den Glassarg von Schneewittchen (wie in "Sonne") erinnert, in den Weltraum (oder eine Zukunft, in der man Germania wieder aufwecken kann). Die Szenerie erinnert mich ein wenig an die Star Trek Episode „Der schlafende Tiger“.
„Deutschland - Deine Liebe ist Fluch und Segen - Meine Liebe kann ich dir nicht geben" wird verständlich denn im Großen und Ganzen zeigt uns die stark reduzierte Zeitreise mit kleinen Ausschnitten der deutschen Geschichte das fulminante wiederkehrende Scheitern einer Nation zu der auch die ersten Zeilen der Nationalhymne der ehemaligen DDR gut passen würden: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“.
Natürlich hätte ich mir mehr „positives“ in den 2000 Jahren gewünscht. So zum Beispiel den Verweis auf Dichter, Denker, Erfinder, Entdecker und wissenschaftliche Helden unserer Geschichte, aber ich habe nach mehr als 200 Personen, ohne die unser heutiges Leben nicht vorstellbar wäre, aufgehört zu lesen.
Stattdessen entlässt uns das Musikvideo mit großen Bildern und einer leisen Klaviermusik die sich im Abspann zu den Schlussakkorden „Sonne“ wandelt. Vielleicht sind Rammstein ja doch ein wenig süchtig nach einem intakten Deutschland, ohne den alltäglich gewordenen Irrsinn, wie es „Sonne“ vermuten lässt. Aber wer weiß schon was in den Köpfen um Lindemann & Co. vorgeht?
Ich für meinen Teil finde die Kritik brillant!
Vielleicht regen sich ja deshalb so viele Personen und Institutionen in Zeiten unerwünschter Systemkritik über das Musikvideo auf?
Ich meine ja nur…